Einführung: Jochen Jung

„Diese Kette von Namen zur Vergangenheit hin. Anna, die düster blickende Frau. In Postkartengröße und gerahmt, auch an anderen Stellen der Wohnung. Anna, die Mutter von Ernestine und Mary, geborene von Rukavina. In Zadar geboren, auch Zara geheißen, einem italienischen Hafen zu der Zeit. Und die Benvenuttis … Annas Vater … der Kriegsheld, sagt Ernestine. In ihrem Alltagston (…) Valerija fragte nach, war gefangengenommen von dem Vielerlei, den Gesichtern, der Kleidung, den Uniformen, erkannte und sah neu, irrte sich … Sah eine Straße 1929 in Belgrad, einen Park im bosnischen Travnik, den Balkon in Mostar, das Zimmer in Zagreb, viel später.“

Die wechselvolle Geschichte Mitteleuropas mit seinem einstigen Zentrum Wien ist Folie und Hintergrund für das Porträt Ernestines, das Benno Meyer-Wehlack in seinem Roman entwirft. Allein in einer Wohnung im siebten Wiener Bezirk, in der sie schon gelebt hatte, als es noch einen Kaiser gab, lebt Ernestine „seit längerem schon in einem anderen Zeitmaß“. Während im Erdgeschoß des Hauses heute der Fernseh-Kaiser ist, erscheint die Wohnung Ernestines als Archiv, voll mit Erinnerungsstücken und alten Photos, die an der Spanischen Wand hängen. Über Dokumente, Tagebücher, Photos versuchen die beiden Besucher Ernestines, ihre Nichte und deren Mann, ein Leben zu rekonstruieren, eine Familiengeschichte, von der Schwester, die nach Belgrad floh, vom Vater, der in Bosnien blieb, „beim Tabakmonopol“, vom Bruder, der als Kadett in der Donau ertrank. Ernestine selbst erzählt nicht viel, ihre Geschichte bleibt in der Schwebe zwischen Andeutung und Deutung. Gerade im Ausgesparten aber werden kaleidoskopartig Fragmente von Biographien sichtbar, Linien und Lebensläufe, die sich berühren und wieder auseinanderlaufen, sich zerstreuen und doch aufgehoben bleiben in den tiefliegenden (Ge)Schichten von Dingen, Namen, Orten – und nicht zuletzt in der Topographie Wiens …