„Erst wenn die Stadt zu einer belagerten Stadt wird, entwickelt sich der verstärkte Wunsch, an ihre Ränder zu gelangen (…), dem Kreis zu überschreiten, den dir die Macht aufzwingt.“ (A. Lazarevska, Gruß aus einer belagerten Stadt) Zeitgenössische Erzählungen aus Bosnien-Herzegowina versammelt die von Dragoslav Dedovic herausgegebene Anthologie „Das Kind. Die Frau. Der Soldat. Die Stadt“. Die hier vertretenen AutorInnen sind geboren in den 50er und 60er Jahren, aufgewachsen in der Kulturszene Sarajevos, groß geworden mit der Rezeption westlicher Kultur. Nationalismus und Fragen ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit sind ihnen fremd, ihrem Schreiben gemeinsam ist die Abwendung von nationalistischem Pathos ebenso wie von der vorhandenen literarischen Tradition. Alma Lazarevska – stellvertretend für diese AutorInnengeneration – wird an diesem Abend zwei ihrer Erzählungen präsentieren. In nüchterner, ironisch gebrochener Distanz wird in diesen Texten der Einbruch des Krieges in Bosnien beschrieben, wird lesbar in seiner ganzen Absurdität: Die Geschichte Dafnas beginnt mit einem Malheur, sie zerbricht ein Stück des Familienporzellans „Alt Wien“ – ein symbolträchtiges Unglück, das ihren Beinamen bestimmt und ihren ganzen Lebensweg begleitet. Was mit dem Untergang des Vielvölkerstaats beginnt, endet im Sarajevo der Gegenwart: beim Überqueren der Brücke zwischen dort und hier wird Dafna Pechvogel von einem Heckenschützen getötet. Die Erzählung „Gruß aus einer belagerten Stadt“ beschäftigt sich in lakonischer Weise mit der Frage, wie man ein Kind an die Tatsache des Todes in der Weltliteratur gewöhnen könne. Die Frage wird eingeholt von der Wirklichkeit, wird zur Groteske – das Kind hat sich längst gewöhnen müssen an die Alltäglichkeit des Sterbens in der belagerten Stadt. Übersetzung: Mario Jandrokovic Alma Lazarevska, geb. 1957 in Veles (Mazedonien), Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie, lebt in Sarajevo. Veröffentlichte einen Roman, zwei Bände mit Essays und Erzählungen. In deutscher Übersetzung sind einige ihrer Erzählungen erschienen in Zeitschriften und Anthologien.